Jugendpolitik nach "Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft" - ein Doppelinterview
Frau ProF. Dr. Böllert, Herr Köck, welche Wirkungen hat die Jugendstrategie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ aus ihrer Sicht in den vergangenen Jahren erzielen können?
Prof. Dr. Karin Böllert: Die AG „Jugend gestaltet Zukunft“ im Kontext der Demografiestrategie der Bundesregierung der zurückliegenden Legislaturperiode hat den demografischen Wandel aus der Perspektive der jungen Generation vor allem im ländlichen Raum diskutiert und zu entsprechenden Empfehlungen geführt. Mit dem Jugend-Check werden politische Vorhaben jetzt auf Jugendgerechtigkeit überprüft sowie Politik und Verwaltung dafür sensibilisiert. Erst vor wenigen Wochen ist der erste Bericht des Kompetenzzentrums Jugend-Check veröffentlicht worden.
Die Koordinierungsstelle „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ hat bei der AGJ Einzelvorhaben und Akteure der Jugendpolitik vernetzt und insbesondere 16 Referenzkommunen auf dem Weg zu mehr Jugendgerechtigkeit begleitet. Erklärtes Ziel dieses Vorhabens war es, die Erarbeitung von Strategien für eine jugendgerechte Gesellschaft und Politik vor Ort zu unterstützen. Ein wechselseitiger Erfahrungsaustausch wird nicht zuletzt durch die online zur Verfügung stehende Werkzeugbox „Jugend gerecht werden“ befördert. In der diesen Prozess dokumentierenden Publikation „16 Wege zu mehr Jugendgerechtigkeit – Gelingensbedingungen für jugendgerechte Kommunen“ wird von daher ersichtlich, was vor Ort bewegt werden kann und wie Jugendinteressen in den kommunalpolitischen Blick gerückt werden können.
Die Erfahrungen nicht nur in diesen 16 Kommunen zeigen, dass Jugendliche ihre Umgebung und Lebensrealität mitgestalten wollen und bei gesellschaftlichen und politischen Prozessen mitentscheiden können. Sie haben ein Interesse daran, das Hier und Jetzt wirksam zu beeinflussen und bei den Weichenstellungen für ihre Zukunft gefragt zu werden. Die Mitgestaltung der gesellschaftlichen Realität und der Zukunft junger Menschen durch die Jugendlichen selbst lässt sich durch keine andere Bevölkerungsgruppe oder Perspektive ersetzen.
Tobias Köck: Es gab endlich eine strukturierte Debatte über Jugendpolitik. Die Perspektive junger Menschen bekam etwas mehr Bedeutung im Handeln der Regierung. Ein zentraler Baustein war und ist der Jugend-Check. Er ist ein wichtiges und richtiges Instrument für das strategische Handeln hin zu einer jugendgerechten Gesellschaft. Leider konnte der Jugend-Check aber noch nicht verbindlich verankert werden.
Durch die Strategie wurden die zentralen Akteure für eine Jugendpolitik zuammengeführt: Die jungen Menschen selbst, die Jugendarbeit, die Jugendhilfe, die Jugendforschung und auch die Politik. Auch wenn die Strategie sehr auf das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ausgerichtet war - dort wurde sie konsequenter umgesetzt als gedacht. Andere Ministerien können und müssen sich daran ein Beispiel nehmen. Manche tun es sogar, etwa das Justiz- und Verbraucher*innen -Ministerium, das Gesundheitsministerium, auch das Umweltministerium und in kleinen Ansätzen das Arbeits- und Sozialministerium.
Ein ganzheitlicher jugendpolitischer Ansatz ist bisher nicht gelungen. Das machen wir im Bundesjugendring daran fest, dass Jugend als eigenständige Lebensphase, in der junge Menschen wichtige Schritte in Richtung Selbstständigkeit gehen, noch nicht wirklich in Politik angekommen ist. Ein Beispiel ist die Debatte und das Handeln beim Thema Jugendarmut.
Ein Anspruch der Jugendstrategie war, ein positives Bild von Jugend zu zeichnen und zu erreichen. Da liegt noch ein langer Weg vor uns in Politik, Medien und Gesellschaft.
Welche Herausforderungen müssen aus jugendpolitischer Sicht jetzt unbedingt angegangen werden?
Prof. Dr. Karin Böllert: Zentrale Ziele einer Eigenständigen Jugendpolitik waren und sind, dass alle jungen Menschen gute Chancen haben, umfassende Teilhabemöglichkeiten und attraktive Perspektiven auf ein selbstbestimmtes Leben unabhängig von Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnisch-kultureller Zugehörigkeit, Religion oder Behinderung. Sie erhalten Angebote für jede notwendige Förderung und Unterstützung, die sie für ihre Entwicklung zu eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten brauchen. Dabei stehen die Interessen und Bedürfnisse junger Menschen im Mittelpunkt politischen Handelns. Ihre Belange werden bei allen Gestaltungsprozessen berücksichtigt; sie entscheiden dabei mit. Jugendpolitik hat weiterhin sowohl ein im BMFSFJ koordinierendes Ressort als auch einen Querschnittsanspruch – es bedarf weiterhin einer weitreichenden und gemeinsamen Strategie aller Politikfelder.
Bei der Realisierung dieses Anspruches kann durchaus an die bislang vorliegenden Erfahrungen angeknüpft werden, schließlich ist in den letzten Jahren jugendpolitisch schon Einiges erreicht worden. Das AGJ-Projekt „jugendgerecht.de – Arbeitsstelle Eigenständige Jugendpolitik“, das wiederum gefördert durch das BMFSF im Januar des kommenden Jahres starten wird, kann von daher auf einem tragfähigen Fundament aufbauen. Vieles ist aber auch noch nicht erreicht worden: Die Verankerung der europäischen Jugendpolitik in eine nationale Jugendstrategie, vor allem aber in die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe, bedeutet noch einen großen Teil der Wegstrecke hin zu einer jugendgerechten Gesellschaft zurücklegen zu müssen, wie insgesamt eine gesamtgesellschaftliche Jugendpolitik noch auf ihre breite und flächendeckende Verankerung in sämtlichen Strukturen der Jugendhilfe wartet. Nichtsdestotrotz kann dieser Aufgabe optimistisch entgegengeblickt werden. Die Anfänge eines Exotenstatus im Kontext einer umfassenden Gesellschaftspolitik hat die Jugendpolitik mittlerweile hinter sich gelassen. Jetzt kommt es darauf an, ihr Selbstverständnis als ebenen- und ressortübergreifenden Beitrag zu Jugendgerechtigkeit tatsächlich zu praktizieren und dies auch in der Jugendhilfe zu einer Selbstverständlichkeit werden zu lassen.
Eigenständige Jugendpolitik als eine gemeinsame Aufgabe ist ein Grundsatz, der sich in einem ebenen- und ressortübergreifenden Zusammenwirken von Kommunen, Ländern und Bund realisiert. Wichtig ist hierbei insgesamt die wirkungsvolle Beteiligung junger Menschen und ihrer Interessenvertretungen. Bisherige Erfahrungen zeigen aber auch, dass eine jugendgerechte Gesellschaft mit wirkmächtigen Beteiligungsformen junger Menschen vielfach erst noch eingefordert und entsprechend ausgestaltet werden muss. Dass die Kinder- und Jugendhilfe dabei einer, wenn nicht sogar der zentrale Akteur ist, verweist zwar darauf, dass sie ihre vielfältigen Erfahrungen stellvertretend für und gemeinsam mit jungen Menschen in diesen Prozess einbringen kann. Es erwächst daraus aber auch die Notwendigkeit, sich selbstkritisch immer wieder zu fragen, ob die Adressierung von Gestaltungs- und Beteiligungsanforderungen an weitere Akteure der Jugendpolitik tatsächlich in jedem Fall auf der Erfahrung eigener Gestaltungsoptionen und Beteiligungschancen beruht.
Tobias Köck:An vielen Stellen muss unbedingt noch die Nachhaltigkeit der Ergebnisse gesichert werden, eben beim Jugend-Check, der momentan nicht langfristig abgesichert ist. Wir müssen auch weg von der Fixierung auf die Kommunen, nur weil dort Jugendliche leben und stärker mitwirken können. Bund und Länder müssen stärker in die Verantwortung für eine jugendgerechte Gesellschaft. Konkret heißt das zum Beispiel: Im Bund müssen auch das Innenministerium, das Finanzministerium, das Wirtschaftsministerium und das Bildungsministerium - also die großen und einflussreichen Bereiche der Bundesregierung - die Jugendbrille aufsetzen und ressortübergreifend gute Jugendpolitik mitgestalten.
Aus unserer Sicht wird gute Jugendpolitik mit Jugendlichen als starkes Politikfeld entwickelt, das sich ernsthaft politisch mit Interessen von Jugendlichen auseinandersetzt. Das bedeutet konkret: Alle setzen sich in der Jugendpolitik selbstverständlich parteilich für junge Menschen ein.
Gute Jugendpolitik nimmt konsequent die Perspektive von Kindern und Jugendlichen ein. Wenn ein Sachverhalt eine jugendpolitische Dimension hat, wird diese Dimension beleuchtet. Der Jugend-Check muss fester Bestandteil jeglicher Politik sein.
Gute Jugendpolitik nimmt Jugendliche und deren Selbstbestimmung und Selbstorganisation ernst, sie schafft wirksame Beteiligung für Jugendliche. Ohne Jugendstrukturen wie Jugendverbände und Jugendringe ist eine gute, demokratische und streitbare Jugendpolitik nicht möglich. Das bedeutet für Regierungen und Parlamente auf allen Ebenen: vorhandene Jugendstrukturen nutzen und ihnen zuhören. Es bedeutet auch, Strukturen, die Mitwirkung schon verankert haben wie etwa Jugendhilfeausschüsse, zu sichern und diese jugendgerecht zu gestalten.
Gute Jugendpolitik braucht ein Zuhause, sie braucht klare institutionelle Zuständigkeiten auf allen politischen Ebenen – von der Kommune bis zum Bund. Was sie nicht braucht, ist ein Abstellgleis, wie beispielsweise einen Beauftragten, auf den das jugendpolitische Engagement - egal auf welcher Ebene – reduziert wird.
Gute Jugendpolitik hört nicht an der Landesgrenze auf, sondern muss auch auf europäischer Ebene gestaltet werden. Das bedeutet konkret: Die nationale Jugendpolitik und die Umsetzung der Europäischen Jugendstrategie müssen im Sinne guter Jugendpolitiken zusammengedacht werden.
Welche Erwartungen richten Sie an das künftige Zusammenspiel von EU-Jugendstrategie und Jugendstrategie der Bundesregierung?
Prof. Dr. Karin Böllert: Jugendpolitisches Handeln muss stärker als ein wesentliches Element eines sozialen Europas verstanden werden – so das jugend(hilfe)politische Leitpapier der AGJ zum 16. DJHT. Dazu benötigt wird eine gemeinsame europäische Politik, die junge Menschen in den Mittelpunkt stellt und die es sich zur Aufgabe macht, allen jungen Menschen ein gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen, und die sie außerdem dazu befähigt, ihr Umfeld aktiv mitzugestalten. Hierzu muss sowohl die ressortspezifische als auch die sektorübergreifende jugendpolitische Zusammenarbeit innerhalb Europas verstärkt werden. Eine kinder- und jugendpolitische Gesamtstrategie, die auf einem soliden finanziellen Fundament steht, ist erforderlich. Eine weitere Forderung ist, dass das freiwillige Engagement für Europa verlässliche Unterstützung erfahren muss, allen voran durch die Förderung von Jugendarbeit, -organisationen und -netzwerken. Nicht zuletzt braucht Europa auch über 2020 hinaus die Fortführung eines starken und finanziell ausreichend ausgestatteten Jugendprogramms, das die Förderung eines demokratischen und europäischen Bewusstseins und einer aktiven europäischen Bürgerschaft in den Mittelpunkt stellt. Diese Forderungen hat die AGJ schließlich im März 2017 in ihrem europapolitischen Zwischenruf bestärkt: Europa jugendgerechter, demokratischer und partizipativer, inklusiver, offener und vielfältiger, erfahrbarer machen, sind hierbei die wegweisenden Perspektiven. Kurzum - so dieser Zwischenruf - Europa mit Leben zu füllen, zu verteidigen und weiterzuentwickeln ist keine abstrakte politische Aufgabe. Es ist die Summe der europäischen Projekte, Initiativen und Netzwerke aller gesellschaftlichen Akteure, also auch der Kinder- und Jugendhilfe. Und es ist das Ergebnis der lebensweltlichen europäischen Erfahrungen und Begegnungen der (jungen) Europäerinnen und Europäer, welche die Kinder- und Jugendhilfe entscheidend mitprägt. Daraus ergibt sich eine doppelte europäische Gestaltungsmöglichkeit und -pflicht für die Kinder- und Jugendhilfe: einerseits innerhalb der eigenen Strukturen und andererseits in ihrem Wirken für das gelingende Aufwachsen von jungen Menschen insgesamt.
Tobias Köck: Beide Strategien brauchen Verbindlichkeit, eine ressortübergreifende Perspektive und wirksame Jugendbeteiligung. Die EU-Jugendstrategie für die kommenden Jahre ist leider eine Enttäuschung. Wir haben den Eindruck, sie ist viel unverbindlicher geworden. Es hätte mehr und eine verpflichtende Europäische Zusammenarbeit gebraucht, um Jugendpolitik auch national strukturell und ressortübergreifend zu stärken. Beide Strategien müssen kohärent sein, weil sie in Wechselwirkung stehen.
Eine gute und starke Europäische Jugendstrategie ist wichtig, denn auch Deutschland kann von neuen Ideen und Maßnahmen anderer Länder profitieren. Für die nationale Umsetzung liegt die Hoffnung nun auf den EU-Jugendzielen, den „Youth Goals“. Sie spiegeln die Prioritäten der jungen Menschen und müssen auf europäischer und nationaler Ebene deutlich sichtbar und spürbar eingebunden werden.
Wir erwarten, dass Deutschland Verantwortung übernimmt und die jugendpolitische Zusammenarbeit in der Europäischen Union forciert. Wir brauchen nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern einen größtmöglichen und zukunftsgerichten Anspruch im Interesse der Jugend.
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