Inklusion durch Kulturelle Bildung fördern
28.09.2016
Integration ist nicht gleich Inklusion
Die Vision einer Gesellschaft, in der Unterschiedlichkeit als Normalfall – nicht als Ausnahme – gesehen wird, und in der jede/r die gleichen Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat – unabhängig von seiner/ihrer Lebenssituation oder individuellen Voraussetzungen – leitete die Akteure in der Kulturellen Bildung bei der Umsetzung ihrer Projekte. Dieser „weite“ Begriff von Inklusion unterscheidet sich grundlegend von einem „engen“ Begriffsverständnis, das eigentlich „Integration“ von „Menschen mit Behinderungen“ im Fokus hat. Dieses greift jedoch in zweierlei Hinsicht zu kurz: Erstens, weil es Menschen nicht im Blick hat, die jenseits von so genannten „Behinderungen“ nicht die gleichen gesellschaftlichen Teilhabechancen haben wie andere. Zweitens, weil es bestimmte Menschen oder Gruppen als „die anderen“ definiert, die „sich integrieren“ oder die „integriert werden“ müssen. „Integration“ ist also nicht gleich Inklusion, sondern, im Gegenteil, ein Konzept, das Ausschlüsse verstärkt. Es verkennt, dass Inklusion eine Aufgabe aller Menschen ist, unabhängig davon, wie privilegiert sie jeweils sind.
Der Innovationsfonds fördert kulturelle Bildung
Die Akteure der zehn im Innovationsfonds Kulturelle Bildung geförderten Projekte verständigten sich früh auf ein weites Verständnis von Inklusion. Dies betrifft sowohl die „Zielgruppen“ ihrer Arbeit, die Prozesse und Methoden sowie die eigenen Strukturen und Einrichtungen. In einer gemeinsamen Lernwerkstatt, moderiert von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) e. V. wurde als gemeinsames Ziel identifiziert, Kindern und Jugendlichen Zugänge zu ermöglichen, die – aus den unterschiedlichsten Gründen – einen erschwerten Zugang zu den Projekten und Angeboten der Jugendarbeit haben. Gleichzeitig sollte vermieden werden, durch eine dezidierte Zielgruppenansprache wiederum Ausschlüsse zu produzieren. Gründe, die die Teilhabe an Angeboten der (kulturellen) Jugendarbeit erschweren, gibt es viele: den Wohnort, das soziale Umfeld, körperliche oder andere „Behinderungen“, familiäre Hintergründe, Flucht- oder Migrationserfahrung, spezifische Lebenslagen, wie zum Beispiel teilweise wohnungslos zu sein, eine belastende Bildungsbiografie und viele mehr.
Kulturelle Bildung und Inklusion: Passt das zusammen?
Die Erfahrungen der letzten Jahre hatten gezeigt, dass die Beschäftigung mit kulturellen Ausdrucksformen und künstlerischen Prozessen (Musik und Rhythmik, Theater und Tanz, Spiel und Zirkus, Bildende Kunst, Medien und Film, Erzählkunst und Literatur etc.) sich gut eignet, um verschiedene Kinder und Jugendliche anzusprechen, Zugänge zu schaffen und Inklusion in der Praxis zu leben. Immer mehr Träger suchen nach Wegen, Arbeitsweisen der Kulturellen Bildung anzuwenden oder mit den Trägern der Kulturellen Bildung zu kooperieren. Diese können Vereine und Initiativen sein, die an unterschiedlichsten Orten Angebote und Praxis realisieren (zum Beispiel im Musikverein, als (mobiles) Theaterprojekt, drinnen oder draußen) und ebenso Einrichtungen wie z. B. Museen, Theater, Musikschulen, Jugendkunstschulen, Bibliotheken, Opern- und Konzerthäuser.
Doch was genau bedeutet „Kulturelle Bildung“ im Zusammenhang mit Inklusion? Wodurch entstehen hier spezifische Qualitäten und Potenziale für Kinder und Jugendliche? Und welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen müssen dafür erfüllt sein? Dies waren einige der Fragen, mit denen die Projektakteure in die zwei Jahre Projektpraxis im Innovationsfonds starteten. Weitere lauteten:
- Wie kann Inklusion in der kulturellen Jugendarbeit praktisch gelebt werden? Wo können wir diese kleinen einfachen umsetzbaren Dinge finden? Wie kann es sich nach dieser konkreten Zeit noch weiterentwickeln? Gibt es beispielsweise auch die Möglichkeit für Fachkräfte, Künstler/-innen, Trainer/-innen mit Down-Syndrom? Welche Umgebung braucht dieser Prozess?
- Wie kann die Praxis der Kulturellen Bildung jenseits unserer Projekte und Angebot dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft inklusiver wird? Es geht darum, der Jahrzehnte lang überdauernden Separierung entgegenzuwirken. Wie lässt sich die allgemeine Inklusion auch im Sozialraum und nicht nur im geschützten Raum leben, realisieren, umsetzen? Wie schaffe ich inklusiven Sozialraum für normale Begegnungen?
- Wie lassen sich Worthülsen wie „gendersensibel“ inklusiv mit Fragen und Erfahrungen füllen? Wie werde ich dieses Wort „INKLUSION“ los? Wir kann es zu einer positiven Kommunikation in diesem Bereich kommen?
- Welche Kulturveränderungen finden statt, wenn in Jugendeinrichtungen Menschen mit Behinderungen arbeiten?
- Wie kann man demokratische Beteiligungsprozesse gut organisieren, wenn zum Beispiel jemand nicht gut sprechen kann?
- Was ist Leistung? Was ist Erfolg? Leistungsorientierung in einem traditionellen Verständnis steht eventuell in Widerspruch zu dem, was „neue Zielgruppen“ mit sich bringen.
- Was müssen Ehrenamtliche an Qualifizierung erhalten, die sie in die Lage versetzt, in diesem Prozess gute Wirkung zu zeigen? Wie kommen wir zu einer Normalität, die jemand leben kann ohne eine Weiterbildung zu machen? Wie lebe ich eine andere Kultur des Miteinanders im Jugendverband? Wie kommen wir zu einer Normalität der Verschiedenheiten?
Rückblick und Ausblick: Was können einzelne Projekte leisten?
Die geförderten Projekte arbeiteten unter anderem mit Musik, Theater, Zirkus, digitalen Medien und bildender Kunst. Die Organisationsform der Träger reichte vom Theaterprojekt vor Ort über stadtteilübergreifende Konzepte bis hin zur bundesweiten Verbandsstruktur. Es wurde kulturelle und künstlerische Praxis durchgeführt und erprobt, Methoden evaluiert, Gelingens-Faktoren untersucht, inklusive Weiterbildungskonzepte entwickelt, mediale Arbeitsformen erarbeitet und Einrichtungskonzepte hinterfragt. Zwei Teams vernetzten und begleiteten die Innovationsfonds-Projekte und werteten sie in der Gesamtschau aus: ein Team von jugendlichen Expertinnen und Experten und eines bestehend aus erwachsenen Fachkräften.
Inklusion ist ohne Alternative
Die wichtigste Erkenntnis ist: Inklusion ist ohne Alternative! Es geht nicht darum, ob wir in der Kinder- und Jugendhilfe und -arbeit inklusiv arbeiten wollen, sondern nur darum wie. Dies klingt selbstverständlich, ist es jedoch leider nicht. Noch immer ist es weit verbreitet, dass es Projekte gibt und inklusive Projekte, Angebote und inklusive Angebote… Das Ziel muss aber sein, dass es nur noch Projekte und Angebote gibt, die selbstverständlich inklusiv sind (wobei es dieses Labels dann nicht mehr bedarf). Folgende Erkenntnisse lassen sich aus den Projekterfahrungen zusammenfassend festhalten:
- Fachkräfte, Träger und Einrichtungen sollten dort ansetzen, wo sie bereits „inklusives Potenzial“ haben – und dieses Schritt für Schritt weiter ausbauen. Oft scheitern Akteure an den eigenen Ansprüchen, die dann uneinlösbar erscheinen. Im Prozess der Inklusion geht es auch darum, Ängste wahrzunehmen. Es geht um die konkrete Arbeit miteinander und das Lernen durch Auseinandersetzung.
- Inklusion ist ein Thema, das mit vielen Vorurteilen belastet ist. Begrifflichkeiten wie „Inklusion“ gilt es generell mit Vorsicht zu genießen. Es gibt viele verkürzte Sichtweisen. (Ein Fahrstuhl etwa macht noch keine inklusive Schule.) Außerdem schrecke der Begriff viele ab – also lieber „einfach“ inklusiv arbeiten, als (nur) das Label nutzen!
- Inklusion benötigt Zeit. Gruppen haben ihre eigene Dynamik und es ist nicht möglich von außen aufgesetzt Gruppen/Gruppenzusammensetzungen schnell zu verändern.
- Für das Gelingen von Inklusion ist die Haltung der Fachkräfte, (Kultur-)Pädagoginnen und Pädagogen, Künstler/-innen (…) ein wesentlicher Faktor. Die Auseinandersetzung mit Inklusion verändert den Blick auf die Gesellschaft und die kulturpädagogische Arbeit. Dabei ist es unverzichtbar, sich mit anderen Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls auf dem Weg sind, auszutauschen.
- Wenn eine Selbstverwaltung und -organisation lokaler Akteure/der Zielgruppe im strukturschwachen Raum erreicht werden sollen, sind innovative Ansätze und deren langfristige Finanzierung unumgänglich. Eine nur temporäre und teilweise Abänderung der jahrelangen Förder- und Verwaltungspraxis und, damit zusammenhängend, der Bildungs- und Kulturpraxis im strukturarmen und -schwachen Raum ist kaum möglich und nicht sinnvoll.
- Bewährt hat sich das Etablieren inklusiver Kulturen durch Tandems – das konkrete „Leben von Inklusion“. Dabei ist eine große Vielfalt an möglichen Tandems/ Zusammenarbeit von jungen Menschen mit und ohne „Handicap“ empfehlenswert.
- Räumliche/finanzielle Planungssicherheit und die Prozesse der eigenen, selbstverantwortlichen Entscheidung zur Mitgestaltung des eigenen Lebensumfeldes sind unumgängliche Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklungsarbeit. Die künstlerische, kreative Arbeit muss den sozialpädagogischen Habitus übersteigen – das Angebot an die Zielgruppe ist erst relevant und sinnvoll, wenn es lebensweltliche Bewandtnis hat. Hierfür ist in allen Projektebenen von vornherein Sorge zu tragen.
- Sowohl die technische Ausstattung als auch die Möglichkeit, Veranstaltungen barrierefrei oder barrierearm durchzuführen sind im Bereich der Jugendkulturarbeit begrenzt, wobei erhebliche regionale Unterschiede aufgefallen sind. Förderlich ist die Zusammenarbeit mit vielen verschiedenen Trägern und Institutionen.
- Ein Schlüssel für nachhaltige Beteiligung durch digitale Medien liegt in der gelungenen Verbindung von Online- und Offline-Aktivitäten. Komplexe Themen „Vielfalt“ und „Inklusion“ im Sozialraum bedürfen der Auseinandersetzung im „Face-to-Face-Setting“.
- Die gemeinsame Überarbeitung inklusiver Konzepte mit Ehrenamtlichen ist für die Vereinsarbeit wichtig, setzt an deren Ressourcen an und macht die Tragfähigkeit und Möglichkeiten inklusiver Arbeit sichtbar.
- Voraussetzung für Angebote mit breiter Teilnehmenden-Struktur ist eine entsprechend gestaltete Öffentlichkeitsarbeit, die Zugänge auf verschiedenen Ebenen schafft, sowie der direkte Kontakt zu kommunalen Trägern und Einrichtungen der Jugendhilfe und Kultureinrichtungen.
- Empfohlen wird die Umkehrung der „klassischen“ Ausrichtung von „Inklusions-Pädagogik“: Pädagoginnen und Pädagogen lernen von kompetenten Expertinnen und Experten, die nicht länger Empfänger von Hilfeleistungen sind, sondern Teil-Geber/-innen.
In verschiedenen Künsten, mit kulturellen Ausdrucksformen oder im Spiel können sich Kinder und Jugendliche ihren Möglichkeiten, Interessen und Bedürfnissen entsprechend die Welt erschließen – individuell, auf ihrem ganz persönlichen Weg und auch gemeinsam mit anderen, mit eigenen Fragen und Ideen. Dabei kann sowohl die aktive als auch die rezeptive Beschäftigung wertvoll sein. Künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen ermöglichen die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, aber auch mit dem subjektiv Erlebten, mit eigenen Gedanken und Gefühlen. Auf künstlerischem Wege können junge Menschen sich auf einer anderen Ebene damit auseinandersetzen und zum Ausdruck bringen, wofür vielleicht sonst die Worte fehlen – oder was sie sich sonst nicht zutrauen würden. So kommen auch Stille „zu Wort“ – Widersprüche dürfen auch einmal nebeneinander stehen bleiben, Vielfalt wird als Ressource/Chance betrachtet.
Die künstlerischen Ausdrucksformen haben sich bewährt, damit Kinder und Jugendliche sich eine Meinung bilden, Position beziehen und diese mit anderen verhandeln können. So lassen sich einige der negativen Wirkungen von Benachteiligung und Ausschluss abmildern. Wenn ein dauerhafter Zugang gelingt, können Methoden, Projekte und Angebote Kultureller Bildung ein Weg für Kinder und Jugendliche sein, die eigene Lebensumwelt mitzugestalten und sich gesellschaftlich zu engagieren.
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