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Eigenständige Jugendpolitik

Zwischen Demokratieunterricht und gestaltender Teilhabe: Politische Bildung junger Menschen im Heute

(c) Barbara_Hass ist krass

„Das Gespenst des Populismus geht wieder um und ist so präsent und erfolgreich wie wohl noch nie in der Nachkriegsgeschichte. […] Was tun, wenn demokratische Prinzipien von einem wachsenden Teil der Gesellschaft nicht mehr als Grundlage für ein gelingendes Miteinander erkannt, nicht mehr verstanden oder sogar abgelehnt werden? […] Wie verhalten, wenn eine zivile Debattenkultur nur noch selten eingehalten wird und stattdessen Hass, Unterstellungen und Halbwahrheiten plötzlich als akzeptable Beiträge zum politischen Diskurs gelten? Die Antwort lautet seit einiger Zeit wieder häufiger: Mehr politische Bildung tut Not!“[1] Was Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) in einer Rede an der Universität Bonn im Januar 2017 formulierte, wird zur Zeit auf allen Ebenen von Politik und Gesellschaft diskutiert: Wie können (junge) Menschen zur Teilnahme und Teilhabe am öffentlichen Leben befähigt werden, um zum Beispiel auch dann politisch haltungs- und handlungsfähig zu sein, wenn sich online wie offline die Nachrichten zu aktuellen Debatten und Ereignissen zu widersprechen oder zu überschlagen scheinen? Und wo sind die Orte politischer Bildung, an denen junge Menschen Demokratie als etwas erleben können, das ihnen die Möglichkeit gibt, ihren Lebensraum selbst mitzugestalten?

Vom Beutelsbacher Konsens zur digitalen Bildung

In dieser Auseinandersetzung wird schnell deutlich, dass politische Bildung als favorisiertes Mittel gegen Ignoranz und Demokratiefeindlichkeit viel Wertschätzung erfährt. Definition, Aufgabe, Themenspektrum und Orte politischer Bildung unterliegen jedoch einem ständigen Wandel, der auch für die Eigenständige Jugendpolitik eine wesentliche Rolle spielt.

Blickt man zurück ins 20. Jahrhundert und vor allen Dingen auf die Nachkriegszeit, so zeigte sich schon damals, wie um das richtige Maß politischer Bildung in Deutschland gerungen wurde: Nachdem in der NS-Zeit frühere Ansätze von aufgeklärter Staatsbürgerkunde durch eine massive Indoktrinationspolitik in Schule und außerschulischer Bildung ersetzt worden waren, führten in Westdeutschland die Alliierten Strategien der Re-Education ein, der demokratischen Neuerziehung zur Überwindung des Nationalsozialismus im Rahmen der Entnazifizierung.[2] Die Studierendenproteste zum Ende der 1960er Jahre, der RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren und die daraus folgende politische Polarisierung in der Bundesrepublik führte dazu, dass die parteipolitisch unabhängigen Zentralen für politische Bildung (die Bundeszentrale für politische Bildung wurde bereits 1952 gegründet) sich gegen Instrumentalisierung durch die jeweiligen Regierungen wehrten.[3] Aus dieser Sorge heraus entstand 1977 der sogenannte „Beutelsbacher Konsens“, welcher bis heute als Fundament politischer Bildung in Deutschland dient.

Dieser formulierte als zentrale Aufgabe der politischen Bildung, die Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, sich selbstständig ein Urteil zu politischen Fragestellungen zu bilden, politische Situationen anhand der eigenen Interessenslage analysieren und bewerten zu können. Zusammengefasst formuliert er drei wesentliche Leitsätze: Erstens das Überwältigungsverbot, das besagt, dass Lehrerinnen und Lehrern ihren Schülerinnen und Schülern nicht ihre eigene Meinung zu politischen Fragestellungen aufzwängen sollen und sie damit daran hindern, sich selbstständig ein Urteil zu bilden. Zweitens solle das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert werde, auch so im Unterricht dargestellt und diskutiert werden. Und drittens sei es Aufgabe der politischen Bildung, den Schüler und die Schülerin in die Lage zu versetzen, politische Situationen anhand der eigenen Interessenslage analysieren und bewerten zu können.[4] Was am Beutelsbacher Konsens deutlich wird, ist der Fokus auf den Ort, an dem politische Bildung in erster Linie stattfindet, nämlich die Schule, auf welche sich die institutionelle politische Bildung auch heutzutage noch zu fokussieren scheint. Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Politik – die Bezeichnungen für das Fach sind von Bildungsplan zu Bildungsplan verschieden und ebenso unterschiedlich ist auch der Stellenwert, den das Fach im Stundenplan von Schülerinnen und Schülern einnimmt. Die Frankfurter Erklärung „Für eine kritisch-emanzipatorische Bildung“ (2015) hat den Beutelsbacher Konsens wesentlich aktualisiert.[5] Die Verfasserinnen und Verfasser heben hervor, dass Politische Bildung nicht nur jenseits von Schule gedacht werden muss, sondern auch, dass eine Aufgabe von politischer Bildungsarbeit gleichsam die Sichtbarmachung von marginalisierten und benachteiligten Positionen ist. Dieser Ansatz hinterfragt zum einen die hierarchische Funktionsweise von Schule und fokussiert zum anderen die Selbstbestimmung und Mündigkeit junger Menschen, um sich auch politischen und sozialen Umbrüchen stellen zu können. Dies zeigt sich auch daran, dass nicht zuletzt gerade der formelle Bildungsbereich von der Digitalisierung erfasst wird. Diese Entwicklung eröffnet nicht nur neue und interaktive Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung, sondern ruft bei vielen Lehrenden Skepsis und Unsicherheiten hervor. In der persönlichen Wahrnehmung überwiegt bei pädagogischen Fachkräften oft die Gefahr bzw. Angst vor dem Unbekannten. Junge Menschen werden damit jedoch in ihrer Lebenswelt nicht ausreichend wahrgenommen und in ihrem Bedürfnis nach vernetzter Information, Kommunikation und Positionierung und damit auch politischer Bildung nicht mehr erreicht.[6] Die Digitalisierung und die damit verbundene Perspektive – oder vielmehr die bereits existierende Realität – dass Informationen und eLearning-Tools jederzeit und überall zum Beispiel per Smartphone abrufbar bzw. erreichbar sind, bietet jedoch großes Potential für die politische Bildungsarbeit, denn eines ist sicher: Das Internet ist gekommen um zu bleiben.

Demokratie erleben – Demokratie lernen?

Der Ansicht, dass junge Menschen sich nicht mehr für Politik zu interessieren scheinen, können nicht nur mithilfe der Ergebnisse der SINUS-Studie von 2016 starke Argumente entgegengebracht werden. Auch das vielfältige ehrenamtliche Engagement junger Menschen in Verbänden und Vereinen weist darauf hin, dass nicht etwa das Interesse an Themen aus ihrem eigenen Sozialraum abgenommen hat, sondern dass junge Menschen vielmehr das Vertrauen in das Parteiensystem und in die Wirkmacht von parlamentarischer Demokratie zu verlieren scheinen. Sie nehmen wahr, dass politische Entscheidungen auf allen Ebenen nicht transparent gefällt werden, dass sie an gesellschaftlichen Prozessen nicht teilhaben dürfen und selbst dann, wenn es um ihren eigenen Sozialraum geht, sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden oder gar nur „scheinbeteiligt“ werden, zum Beispiel indem sie zwar befragt werden, ihre Antwort aber nicht in Entscheidungsprozesse einfließen. Diese Enttäuschung schlägt dann auch auf die persönliche Offenheit für Themen politischer Bildung bei jungen Menschen nieder, vor allen Dingen, wenn sie diese nur im Rahmen von Schule erleben. Doch wo könnten die Orte sein, wo sie politische Bildung nicht nur konsumieren, sondern sie auch durch das eigene Tun und die Erfahrung von Teilhabe mitgestalten und reflektieren können? Gerade die Jugendarbeit und die Jugendverbandsarbeit und ihre methodischen Freiräume gelten als „Werkstätten der Demokratie“, wo junge Menschen sich unter Gleichaltrigen mit aktuellen und sie besonders betreffenden Themen wie gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Rassismus, Homophobie, Antisemitismus, Sexismus etc.), Hass in sozialen Medien, Flucht und Migration oder antidemokratischen Tendenzen und Gruppierungen auseinander setzen können. Gleichsam werden aber auch durch die in der Jugend(verbands)arbeit nahezu selbstverständlichen Beteiligungs- und Mitbestimmungsformen die eigenen sozialen und demokratischen Kompetenzen ausgebildet und geschärft. Da sich jedoch Engagementformen junger Menschen verändern und viele Jugendliche sich zwar themen- und projektbezogen ehrenamtlich einsetzen, aber auch aufgrund der Ganztagsschule und des gestiegenen Leistungs- und Notendrucks dafür weniger echte Freiräume erleben, kann sich politische Bildung nicht mehr nur auf einen einzigen Ort – Schule ODER Jugendarbeit – beschränken, sondern muss von Gesellschaft und Politik als ein ressortübergreifender, integraler Bestandteil all jener Institutionen verstanden werden, mit denen junge Menschen in ihrer Entwicklung in Kontakt kommen.

Politische Bildung – für wen eigentlich?

Der im Frühjahr 2017 veröffentlichte 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter“, der von einer unabhängigen Sachverständigenkommission erarbeitet worden ist, fordert deshalb gerade angesichts der zunehmenden politischen Diversifizierung und gesellschaftlichen Polarisierung „ein in den Institutionen des Aufwachsens verankertes verbindliches Konzept einer politischen Bildung im Jugendalter, das – neben der Aneignung von Wissen – zu einer eigenen Positionsfindung und zu demokratischer Handlungskompetenz beiträgt. Politische Bildung ist zu bedeutsam, als dass sie eher zufällig, sporadisch oder nur als „Surplus“ von ausgewählten Institutionen des Aufwachsens aufgegriffen wird.“[7] Die Marschrichtung ist also klar: Politische Bildung muss (wieder) in den Mittelpunkt formaler und non-formaler Bildung rücken – doch gilt dies tatsächlich spezifisch und ausschließlich für Kinder und Jugendliche? Gerade im Rahmen der Debatte um Fake News, Hate Speech und antidemokratische Argumentationen off- und online zeigt sich immer wieder, dass nicht nur bei jungen Menschen der Bedarf nach politischer Bildung abseits von Schule und Jugendarbeit erhöht zu sein scheint, sondern auch und insbesondere Erwachsene sich mangels einer kompetenten Wissens- und Erfahrungsgrundlage damit schwer tun, sich in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu orientieren. Junge Menschen bedürfen zwar einer besonderen Unterstützung in der Informationsbeschaffung und -auswertung, beispielsweise durch Lehrerinnen und Lehrer, Jugendleitungen, Jugendhilfepersonal etc., aber es ist gleichsam nicht mehr zu erkennen, worauf sich Erwachsene in Zeiten des politischen Wandels in ihrer eigenen Meinungsbildung beziehen. Maßnahmen und Instrumente politischer Partizipation, wie sie die Jugendstrategie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ umsetzt, bieten Perspektiven für Demokratielernen und gesellschaftliche Mitsprache abseits des gesetzlichen Wahlrechts. -Wenn junge Menschen politische Bildung als etwas erleben, das ihren Alltag, ihre Beziehungen, ihren Lebensraum und ihre Entwicklungsperspektiven positiv und nachhaltig verbessert, dann profitieren davon auch die Erwachsenen. Insbesondere mit Blick auf den demographischen Wandel und die Chancen und Herausforderungen an die Einwanderungsgesellschaft sind junge Menschen in ihrer Offenheit und Neugierde für die Welt der Erwachsenen ein unschätzbar wertvoller Schlüssel zu Themen wie Interkulturalität, Diversität oder Digitalisierung. Indem also politische Bildung als Querschnittsaufgabe für alle Teile der Gesellschaft aufgefasst wird, können alle nur voneinander profitieren.

Autorin: Dr. Anna Grebe (Koordinierungsstelle "Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft")

 

[1] http://www.bpb.de/presse/240289/die-zukunft-der-politischen-bildung-in-einer-re-politisierten-gesellschaft-12-01-2017-bonn

[2] http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/59935/politische-bildung?p=all

[3] http://www.lpb-bw.de/wiebeutelbacherkonsensentstand.html

[4] http://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens.html

[5] https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklaerung/

[6] https://www.bpb.de/lernen/digitale-bildung/werkstatt/

[7] 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 2017, S. 71.

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