Freiräume: Eine Gegenwartserfahrung zwischen Langeweile und Verzweckung
„Ich brauche persönlich für eine freie Gestaltung meines Lebens: Freiheit. Und Freiheit bedeutet für mich auch Mittel zur Verfügung haben […], auch Grenzen die durchaus von Erwachsenen gesetzt werden dürfen. Aber dazu gehört auch, Grenzen, die von Erwachsenen gesetzt wurden, zu überprüfen.“ (Zitat aus dem Video „Stimmen aus der Jugendkonferenz zur Jugendstrategie", www.jugendgerecht.de)
Freiheit – ein großes Wort, das die einen zu philosophischen Höhenflügen einlädt und das für die anderen nur Hand in Hand mit „Sicherheit“ zu denken ist. Im jugendpolitischen Diskurs wurde „Freiheit“ in den vergangenen Jahren verstärkt in den Begriff der „Freiräume“ übersetzt und beschreibt so eine politische Forderung, die auf Phänomene wie die Verdichtung und Beschleunigung des Alltagslebens, Selbstoptimierungszwänge und Mithaltedruck reagiert: Die Lebensphase Jugend ist geknüpft an besonders hohe gesellschaftliche Erwartungen, es geht – so der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung - „um die Ablösung vom Elternhaus, die Ausbildung einer Lernmotivation, die finanzielle Verselbstständigung, die Bewältigung der Pubertät, die Entwicklung ihrer Sexualität sowie um den Aufbau von tragfähigen Beziehungen zu Gleichaltrigen“. Gleichzeitig aber haben junge Menschen angesichts des Ausbaus der Ganztagesschule, einem hochspezialisierten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt und weniger konkret vorhandenen Jugendräumen, beispielsweise in Jugendzentren etc., immer weniger freie Räume, freie Zeiten und überhaupt Gelegenheiten um sich auszuprobieren und unverzweckt zu entfalten. Als eines der vier Handlungsfelder der Jugendstrategie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ legt das Thema deshalb den Fokus auf das Potential von jungen Menschen, „die Gesellschaft durch Experimentieren in dafür geeigneten, geschützten Räumen immer wieder zu erneuern“ (15. Kinder- und Jugendbericht, S. 122).
Orte, Zeiten und Bedingungen von Freiräumen
Nicht von ungefähr kommt daher der titelgebende Schwerpunkt des 15. Kinder- und Jugendberichtes: „Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter“; er setzt vielmehr genau da an, wo es gilt, die Entfaltungsmöglichkeiten aller jungen Menschen in dieser wichtigen Phase der Verselbstständigung, Selbstpositionierung und Qualifizierung durch die Schaffung verschiedener Rahmenbedingungen abzusichern. Ganz konkret bedeutet das zum Beispiel danach zu fragen, wo Jugendliche Räume und Orte finden können, die sie selbst gestalten und verwalten dürfen oder wo Jugendliche in ihrem Alltag als auch in ihrem Lebenslauf Zeiten für ehrenamtliche Tätigkeiten, für Sport und Kreativität oder auch einfach mal für‘s Nichtstun nutzen dürfen. Wie schon Astrid Lindgren so schön sagte: „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.“
Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ unterscheidet in ihrem 2016 veröffentlichten Diskussionspapier „Freiräume für Jugend schaffen!“ zwischen drei Grundkategorien von Freiräumen: „Als erstes sind Freiräume im öffentlichen Raum und bei der Nutzung digitaler Angebote zu nennen, die jungen Menschen Möglichkeiten geben für Selbstinszenierung und Vergemeinschaftung ohne eine Reglementierung oder Anspruchsformulierung durch pädagogische Settings. Zweitens lassen sich die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der Kinder- und Jugendarbeit, beschreiben, die auf der Grundlage von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung strukturierte freizeit- und bildungsorientierte Gelegenheiten für Selbstwirksamkeitserfahrungen bieten. Drittens sind Freiräume rund um die formalen Bildungsinstitutionen möglich. Der Begriff „Freiraum“ ist dabei vor allem als Erweiterung der Mitbestimmung an Inhalt und Form von Bildungsprozessen und -orten zu verstehen.“ Folglich trägt zwar die Gesamtgesellschaft die Verantwortung für die Einrichtung von Freiräumen und die Sicherstellung ihrer strukturellen Rahmenbedingungen, ist aber nicht unbedingt an allen Aspekten ihrer inhaltlichen und thematischen Ausgestaltung beteiligt: Jugendliche sollen vielmehr selbst entscheiden dürfen bzw. dazu befähigt werden, selbst zu entscheiden, wie und wo sie Freiräume nutzen, wie sie diese Räume strukturieren und wie sie sich ergebnisoffen zu diesen Räumen in Beziehung setzen. Dazu gehört aber auch, sie über die rechtlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen in Kenntnis zu setzen, was nicht nur den klassischen Jugendschutz betrifft, sondern auch bei der Frage nach Datenschutz und Persönlichkeitsrechten in digitalen Räumen eine Rolle spielt.
Gleiche Freiräume für alle?
„Freiräume“ – selbst im Lichte der im Kinder- und Jugendbericht angezeigten ganz praktischen Operationalisierbarkeit des Begriffes besteht dazu unter Akteuren in der Kinder- und Jugendhilfe noch viel Redebedarf. So hat etwa das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Potentiale des Freiraum-Begriffs im Rahmen eines Fachgesprächs der Reihe „Werkstatt Jugend & Politik“ im Januar 2018 aufgegriffen. In Kooperation mit der Koordinierungsstelle „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“, der Bundesvereinigung für kulturelle Kinder- und Jugendbildung sowie der Deutschen Sportjugend wurde der Begriff mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Praxis und Politik dialogisch beleuchtet und praxisbezogene Herausforderungen sowie jugendpolitische Schlussfolgerungen diskutiert. Dabei wurde u.a. deutlich, dass die Definition und die Ausgestaltung von Freiräumen sich in einem permanenten Aushandlungsprozess befinden und vor allen Dingen als politische Forderung nicht direkt wieder selbst verzweckt werden dürfen: Die Formulierungen „Freiräume für…“, „Freiräume, um zu…“, wie sie teilweise von Akteuren der Jugendhilfe und Jugendarbeit verwendet werden, führen insofern in die Irre, als sie einen „Output-Zwang“ bzw. eine Verwertungslogik implizieren, die wiederum kaum echte Partizipation und Selbstbestimmung außerhalb dieser gesetzten Regeln ermöglicht. „Was für den einen als eine erstrebenswerte Idee von Freiraum erscheint, kann für den anderen Ausdruck der Fremdbestimmung sein.“ (15. Kinder- und Jugendbericht, S. 111) Umso wichtiger ist es deshalb, immer wieder genau die Zielgruppe in den Blick zu nehmen, für die die Entfaltung von Freiräumen für die Persönlichkeits- und Kompetenzbildung im Sinne der Erfahrung von Selbstwirksamkeit relevant ist. Für marginalisierte junge Menschen, die durch den Übergang von Schule in die Ausbildung und den Beruf herausgefordert sind und für die „zu wenig Freizeit“ vielleicht nach einem Luxusproblem klingen mag, sehen Freiräume anders aus als für jugendpolitisch engagierte Ehrenamtliche in einem Verein oder Verband, die sich eine Verbesserung der Freistellungspraxis für ihr Engagement wünschen. Auch die Orte, an denen Freiräume geschaffen werden, erlauben bislang ein unterschiedliches Maß an Mitgestaltungsmöglichkeiten: ein Angebot in einer gebundenen Ganztagesschule ist unter Umständen mit besonderen sozialen Erwartungen an die Schülerinnen und Schüler verbunden, während ein Jugendraum der offenen Kinder- und Jugendhilfe nur bestimmte soziale Milieus anspricht und daraufhin seine inhaltliche Gestaltung ausrichtet, dabei aber nicht flexibel oder partizipativ agiert.
Ringen um Freiräume = Ringen um Grenzen
Der bisweilen (nicht nur) in der kommunalen Jugendhilfe geäußerten Sorge, dass Freiräume die Jugend dazu anleiten könnten, bewusst Grenzen zu verletzen, über die Stränge zu schlagen oder das ihnen entgegengebrachte Vertrauen auszunutzen, ist insbesondere in Zeiten der knappen (oder knapp gehaltenen) Ressourcen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit nicht leicht zu begegnen. Worin liegt der Mehrwert, „einfach nur“ die Grundbedingungen für Freiräume abzusichern, nicht aber die „pädagogisch sinnvollen“ Regeln und Themen zu setzen? Ein unschätzbarer Gewinn in der Schaffung von Freiräumen liegt zweifelsfrei darin, dass Jugendliche – bei aller Widersprüchlichkeit, die darin steckt – in diesen Freiräumen Selbstwirksamkeitserfahrungen machen, die sie für eine langfristige Verselbstständigung und eine gesellschaftliche Verortung dringend benötigen. Eigene Erfahrungen zu sammeln und sich dabei gleichermaßen in Grenzsituationen auf Erwachsene verlassen zu können, ein eigenes Tempo für kreative Prozesse zu entwickeln, an deren Ende nichts außer der Erfahrung mit dem Scheitern stehen könnte, oder das Erleben von echter Mitwirkung und des Gehört-Werdens, lassen Jugendliche zu reifen Erwachsenen werden, die dazu in der Lage sind, ihr Leben in einer pluralen Gesellschaft selbst zu organisieren. Die Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe als auch für die Politik auf kommunaler, auf Landes- und auf Bundesebene ist es dabei, Macht abzugeben, ohne Professionalität einzubüßen und vor allen Dingen ein Zeichen dafür zu setzen, dass nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart schon von jungen Menschen mit neuen Ideen und anderen Perspektiven profitiert.
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