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22 Mio. junge Chancen - gesellschaft.gemeinsam.gerecht.gestalten. Ein Gespräch zum 16. DJHT

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Der 16. Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag (16. DJHT) steht unter dem Motto „22 Mio. junge Chancen - gemeinsam. gesellschaft. gerecht. gestalten.“ Auch die Jugendstrategie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ wird sich auf dem 16. DJHT mit Fragen von Chancen und Perspektiven junger Menschen auseinandersetzen. Zugleich stellt das Motto klar, dass Jugendpolitik eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Wir haben daher mit der AGJ-Vorsitzenden Prof. Dr. Karin Böllert und mit Dr. Christian Lüders, Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfe im Deutschen Jugendinstitut, sowie mit Natalie Schoch, Teilnehmerin der Jugendkonferenz 2016, anlässlich des anstehenden Jugendhilfetags und seinen jugendpolitischen Zielen ein Interview geführt.

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Der 16. Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag (16. DJHT) stellt mit seinem Motto „22 Mio. junge Chancen– gemeinsam.gesellschaft.gerecht.gestalten.“ die Perspektiven junger Menschen in den Mittelpunkt. Worum geht es dabei? Und welche Ansätze erscheinen Ihnen für die fachpolitische Debatte besonders bedeutsam?

Prof. Dr. Karin Böllert: In Deutschland leben derzeit ungefähr 22 Mio. junge Menschen im Alter von 0 bis 27 Jahren – sie machen knapp 25 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung aus. Das Motto des 16. DJHT verdeutlicht einerseits die gesellschaftliche Verantwortung für die Lebensbedingungen junger Menschen, andererseits begreift es 22 Mio. junge Menschen als ebenso viele Chancen für die Gesellschaft. Gemeinsam wollen wir uns für diese Chancen stark machen, Ungleichheit und Benachteiligungen entgegenwirken, und wir wollen uns für umfassende soziale Teilhabe einsetzen. Ansätze aus dem europäischen Kontext werden wir auf dem 16. DJHT ebenso diskutieren wie wirksame Integrationsstrategien für junge Menschen mit Fluchterfahrung oder gute Rahmenbedingungen in einer vielfältigen Gesellschaft. Auch die inklusiven Ansätze aus der Debatte um eine Novelle des Sozialgesetzbuches VIII bestimmen maßgeblich den aktuellen Fachdiskurs. Der DJHT ist der Ort für breite fach- und jugendpolitische Debatten. Die Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ will als Veranstalterin einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe leisten und einen kritischen Austausch zwischen Politik, Theorie und Praxis befördern.

Christian Lüders: Es ist gut, dass der DJHT die Perspektiven – ich würde an dieser Stelle immer den Plural verwenden - junger Menschen zu einem zentralen Bezugspunkt von Jugendpolitik und der Fachdebatten machen möchte. Man handelt sich mit diesem Anliegen zwar eine ganze Reihe neuer Herausforderungen ein, wäre aber einen Schritt weiter: Es ginge dann nicht nur um Beteiligung, was wichtig genug ist, sondern um Teilhabe in dem Sinne, dass die Ausgestaltung dessen, was weithin als Jugend bzw. als Lebenslage Jugend bezeichnet wird, unvermeidlich als ein Projekt von jungen Menschen und Erwachsenen, von jungen Menschen und Politik, von jungen Menschen und Fachpraxis und anderen gesellschaftlichen Akteuren gedacht werden muss. Der 15. Kinder- und Jugendbericht sprach in diesem Sinne von „Jugend ermöglichen“. Dabei geht es nicht allein um einzelne Ansätze, sondern um eine gemeinsame gesellschaftliche Verständigung, was Jugend jeweils meint.

Frau Böllert, sie sagen, junge Menschen sind als Chancen für die Gesellschaft zu betrachten. Wofür stehen diese 22 Mio. junge Chancen?

Böllert: Unser gemeinsames Ziel ist: alle jungen Menschen sollen sich wohlfühlen können. Für ein gesundes Aufwachsen brauchen sie gute Rahmenbedingungen. Wir wissen, die meisten jungen Menschen blicken positiv in die Zukunft. Um ein erfülltes Leben zu haben, sind Freiheit, Aufklärung und Toleranz sowie Freundschaften und Familie besonders wichtig für Jugendliche. Die Bereitschaft, benachteiligten Gruppen zu helfen, ist bei Jugendlichen besonders stark ausgeprägt. Sie legen Wert auf Gerechtigkeit und Fairness. Auch deshalb fordern sie mehr Teilhabe- und Mitbestimmungsmöglichkeiten, denn sie wollen sich an drängenden Themen der heutigen Zeit beteiligen und zu einer guten Zukunft für sich selbst und andere beitragen.
Auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft kann die Kinder- und Jugendhilfe vielfältige Chancen für junge Menschen bieten. Sie gestaltet Orte des Aufwachsens, berät, unterstützt und hilft. Eine Gesellschaft, die die Interessen und Bedürfnisse von jungen Menschen in den Mittelpunkt stellt, kann nur dann Realität werden, wenn sich die gesamte Gesellschaft dafür verantwortlich sieht. Hierzu gehören Bildungseinrichtungen ebenso wie Wirtschaft und Arbeit oder das Gesundheitssystem. Die Belange von Kindern und Jugendlichen sind bei Entscheidungen in Politikbereichen, die ihre Interessen betreffen, zu berücksichtigen.

Natalie, der Aufruf des 16. DJHT, die Gesellschaft gemeinsam gerechter zu gestalten, richtet sich an alle Generationen, die Wirtschaft, Arbeitswelt, Wissenschaft, Bildungssysteme und viele mehr. Wie sollte deiner Meinung nach die Zusammenarbeit dieser vielen Akteure auch über den 16. DJHT hinaus gestaltet werden?

Natalie Schoch: Für eine jugendgerechte Politik ist eine Senkung des Wahlalters unumgänglich. Außerdem verlangt jugendgerechte Politik eine Zusammenarbeit zwischen Politik und Schule. In der Schule besteht die Möglichkeit, eine breite Masse von Jugendlichen zu erreichen und diese für Politik zu begeistern und die generelle Meinung von Jugendlichen herauszufinden. Außerdem müsste es mehr persönlichen Kontakt zwischen Jugend und Politik geben. Wir müssen erreichen, dass nicht mehr nur über Jugendliche, sondern mit Jugendlichen gesprochen wird. Für mehr Austausch zwischen Jugendlichen und Politiker/-innen besteht zum Beispiel die Möglichkeit, dass die Politiker/-innen an die Schulen gehen und dort Jugendliche zu ihren Meinungen befragen. Dies könnte dann zum Beispiel einmal jährlich verpflichtend sein. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Meinungsumfrage an Schulen zu aktuellen Themen.

Frau Böllert, Herr Lüders, der Aufruf, die Gesellschaft gemeinsam gerechter zu gestalten richtet sich ebenso an diese von Ihnen genannten Strukturen außerhalb der Jugendhilfe. Dieser fach- und ressortübergreifende Anspruch findet sich auch in den Grundsätzen der Eigenständigen Jugendpolitik wieder, dem Politikansatz, den die Jugendstrategie verfolgt. Was denken Sie, wie können die Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Politik, Praxis und Theorie dauerhaft gelingen?

Lüders: Nachdem in den letzten Jahren erste Kristallisationspunkte der Zusammenarbeit und des Austausches geschaffen worden sind, gilt es nun, eine breite Basis herzustellen. Das beginnt damit, dass Jugendpolitik endlich ein ressortübergreifendes Thema auf Bundesebene werden muss; es bedarf aber auch stärkerer Impulse aus den Ländern. In manchen Bundesländern gibt es erfreuliche Entwicklungen – z.B. NRW; anderenorts würde ich noch Entwicklungspotenziale erkennen. Da gibt es viele gute Absichten.
Die Arbeit in den 16 Referenzkommunen im Kontext der Eigenständigen Jugendpolitik und der vier Modelllandkreise im Kontext der Demografiestrategie erbringt wichtige Beiträge, von denen andere lernen können. Gleichwohl kann man es dabei nicht belassen. Kommunale Jugendpolitik ist aktuell nicht gerade ein Modewort; an dieser Stelle proaktiv zu werden, wäre sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Ansonsten bleibt zu hoffen, dass die anstehende Diskussion um den 15. Kinder- und Jugendbericht, der ja im engen Sinne des Wortes ein Bericht über Jugend und junge Erwachsene ist, immer auch eine Debatte um die nächsten jugendpolitischen Schritte wird. Das Thema muss auch in die Fachdiskussion mit ihren vielen Schnittstellen und in die gesellschaftspolitischen Debatten.

Böllert: Ein handlungsfeldübergreifender Austausch findet bislang vor allem punktuell oder themenbezogen statt, muss aber in die Breite geführt werden. Für eine fachübergreifende Zusammenarbeit braucht es in erster Linie das Bewusstsein aller Akteure für die gemeinsame Verantwortung für die Jugend und zugleich den Willen, sich für die Sache zu öffnen und konstruktiv mit kinder- und jugendpolitischen Strategien auseinanderzusetzen bzw. diese als gemeinsame Intervention zu verstehen und zu gestalten – und zwar gemeinsam mit den Jugendlichen, nicht an ihren Interessen und Bedürfnissen vorbei! Jugendhilfe und Jugendpolitik müssen diesen Dialog initiieren und am Laufen halten, der Erfolg hängt jedoch vom Gestaltungswillen aller ab.

Im Fachkongress des 16. DJHT werden junge Menschen auch auf dem Podium selbst zu Wort kommen. Was bedeutet diese jugendliche Perspektive für den Fachdiskurs?

Lüders: Allem voran eine Herausforderung, wenn man sie denn ernst nimmt. Natürlich wird überall - angesichts der Heterogenität der Lebenslagen junger Menschen - das unvermeidliche Problem auftauchen, wer jeweils für wen spricht. Wer jemals versucht hat, diese Vielfalt in einer Veranstaltung auch nur annähernd abzubilden, wird um die Probleme wissen. Nichtsdestoweniger wird die Einbeziehung junger Menschen in den Fachdiskurs diesen zunächst komplexer und divergenter machen. Zugleich wird eine Diskussion über Standards und Kriterien des Fachdiskurses entstehen, hinter der die Frage steht, welche Rolle den Perspektiven der jungen Menschen jeweils zukommen kann. Das ist nicht immer leicht zu entscheiden. „Wer den Sumpf trocken legen möchte, darf nicht mit den Fröschen diskutieren“ – heißt schließlich formelhaft verdichtet und ganz und gar unkorrekt formuliert eine Position, mit der man sich auseinandersetzen wird müssen. Ich vermute deshalb, dass neben der Auseinandersetzung mit den jeweiligen konkreten Positionen junger Menschen es eine zweite Ebene, gleichsam einen Metadiskurs, geben wird, innerhalb dessen die Frage nach dem Stellenwert der Perspektiven junger Menschen im Fachdiskurs verhandelt wird.

Schoch: Es ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung. Es zeigt dass Jugendliche mehr in die Politik eingebunden werden und dass sie ernst genommen werden. Es sollte aber nicht nur Gespräche mit Politik geben, die direkt mit Jugendpolitik zu tun hat, wie in meinem Fall mit der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [am Stand der Koordinierungsstelle, 28. März, 14.00-14.45 Uhr]. Jugendliche sind von allen Entscheidungen der Politik als die zukünftige Generation betroffen. Sie sollten daher auch in den Dialog mit Politiker/-innen aus allen Bereichen einbezogen werden. In scheinbar „nicht jugendrelevanten“ Bereichen werden jugendliche Interessen oft vergessen.

Böllert: Junge Menschen wollen die Gesellschaft mitgestalten, engagieren sich politisch und fordern echte Mitbestimmung. Sie wollen mit ihren Anliegen gehört werden. Aus meiner Sicht ist es bei der Umsetzung der Eigenständigen Jugendpolitik besonders wichtig, nicht nur über Jugendliche zu sprechen, sondern Konzepte und Strategien mit Jugendlichen gemeinsam zu entwickeln und zu diskutieren. Die fachliche Debatte profitiert nicht nur von den Ideen junger Menschen, sondern sie benötigt diese unbedingt als ständiges Feedback, um ihr Handeln zu überprüfen. Dafür wollen wir beim DJHT auch einen Rahmen schaffen. Die Rahmenbedingungen einer chancengerechteren Gesellschaft müssen von vielen Akteuren gemeinsam entwickelt und gestaltet werden – Jugendliche werden eingeladen, sich zu positionieren und ihre Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft in die Debatten einzubringen.

Auch die Jugendstrategie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ und ihre Einzelvorhaben setzen auf unterschiedlichen Wegen Jugendbeteiligung um, zum Beispiel durch die Jugendkonferenz auf Bundesebene oder die Jugendbeteiligung in den Modelllandkreisen der AG Jugend gestaltet Zukunft. Verändert dies die Art und Weise, wie Jugendpolitik gestaltet wird?

Schoch: Es wird auf jeden Fall erreicht, dass mehr mit Jugendlichen gesprochen wird. Außerdem wird an Jugendpolitik auf allen Ebenen gearbeitet. Durch Online-Tools wird auch eine breitere Masse an Jugendlichen erreicht. Außerdem wird versucht, vielfältige Meinungen von Jugendlichen herauszufinden, indem Jugendliche aus allen Schulformen in die Jugendpolitik mit einbezogen werden.

Böllert: Es ist zu wünschen, dass sich ernstgemeinte Jugendbeteiligung auch in der Bundespolitik etabliert, diese sollte für alle Fachbereiche selbstverständlich werden. Einige Ressorts wie das Umwelt- und Bauministerium sind hier schon erste Schritte gegangen, beispielsweise mit dem Jugendforum Stadtentwicklung beim Bundesbauministerium. Die junge Generation mit ihren Anliegen und Bedarfen ernst zu nehmen, zeichnet eine zukunftsweisende Politik aus. Das Bundesjugendministerium sollte hier beispielgebend agieren und kontinuierlich die Empfehlungen von Jugendlichen zur Weiterentwicklung ihrer Strategie nutzen. Besonders herausfordernd bleibt es, die gesamte Vielfalt von jungen Lebenswelten tatsächlich einzubeziehen – gleichzeitig muss aber genau das auch weiterhin der Anspruch sein. Denn das Recht auf Beteiligung gilt für alle jungen Menschen!

Lüders: Nun ja, momentan ist noch nicht so recht erkennbar, dass die bislang gestarteten Einzelvorhaben die Jugendpolitik verändert haben. Das ist vielleicht auch eine zu hohe Erwartung. Ich betrachte es schon als Erfolg, dass das Thema Jugendpolitik wach gehalten wurde und sich langsam ausbreitet. Gemessen allerdings an den Herausforderungen bedürfte es weiterer kraftvoller Schritte; sie müssten nur auf die (gesellschafts-)politische Agenda gesetzt und ernsthaft umgesetzt werden. Wahlkampfzeiten sind nicht die schlechtesten Gelegenheiten, um daran zu erinnern.

 

Vielen Dank für das Interview!

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