HomeDemografiestrategieAG „Jugend gestaltet Zukunft“ › Teilhabechancen von Jugend auf dem alternden Land – ein Problemaufriss

AG „Jugend gestaltet Zukunft“

Teilhabechancen von Jugend auf dem alternden Land – ein Problemaufriss

Felix Screenshot

Unsere Gesellschaft verändert sich

Der demografische Wandel wird Deutschland in den kommenden Jahrzehnten tiefgreifend verändern. Die 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (2015) prognostiziert sinkende Geburtenzahlen und eine daraus resultierende Abnahme der Bevölkerung. Dabei werden in urbanen Zentren im Vergleich zu ländlichen Regionen tendenziell mehr Kinder geboren – dies ist vor allem auf den Zuzug junger Menschen zurückzuführen, die dann Kinder bekommen. In Bayern beispielsweise reicht die Spanne von einem hohen Geburtenüberschuss in München (150%) bis zu einem deutlichen Defizit im peripher gelegenen Wunsiedel (39%).

Das tendenzielle Missverhältnis zwischen der gesamten Sterbe- und Geburtenrate wird sich auf Dauer auch durch Zuwanderung nicht ausgleichen lassen. Besonders stark wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpfen. Die Anzahl der 20- bis 64-jährigen (2013: 49 Millionen) wird ab 2020 deutlich zurückgehen und 2060 voraussichtlich maximal 38 Millionen betragen. Die jüngere Bevölkerung im Alter von 12-27 Jahren wird auf 9,6 Millionen zurück gehen (2013: 13 Millionen). Die wunderbare Tatsache, dass unsere Lebenserwartung steigt, führt dazu, dass jede dritte Person 2060 über 65 Jahre alt sein wird.

Wird Deutschland demnächst nur noch von Alten bestimmt?

Aber der demografische Wandel ist nicht nur eine statistische Entwicklung. Es handelt sich um eine ernstzunehmende Herausforderung für Gesellschaft und Politik. Alte werden in wenigen Jahrzehnten den größten Teil der Gesellschaft ausmachen und entsprechend Prioritäten setzen, z. B. mit Blick auf die Versorgung und Pflege der Seniorinnen und Senioren. Veränderte Lebensrealitäten treffen aufeinander – einerseits die Möglichkeit, über 25 Jahre im Rentenstatus zu leben, wenn die durchschnittliche Lebenserwartung auf bis zu 92 Jahre (2060) steigt – andererseits die ständige Beschleunigung und Verkürzung von Studium und Ausbildung für die junge Generation, um sie für die Gesellschaft schneller „nutzbar“ zu machen. Schon in 15 Jahren müssen zwei Jüngere einen Rentner versorgen.

Die Entwicklung der Gesellschaft zu einer sogenannten „Gerontokratie“, einer Demokratie, in der politisches Handeln vor allem von Menschen höheren Alters bestimmt wird, verschärft die Situation für junge Menschen zusehends.

Ländliche Regionen verlieren junge Menschen an die Ballungsräume

Der demografische Wandel birgt aber nicht nur Herausforderungen im Hinblick auf das Verhältnis und den Ausgleich zwischen den Generationen. Insbesondere wird das im ländlichen Raum zum Tragen kommen. Ländliche Regionen werden sich erheblich verändern, bis 2030 wird jeder zweite Landkreis schrumpfen. Die jetzige Infrastruktur wird für sinkende Einwohnerzahlen schwer aufrecht zu erhalten sein. Es besteht die Gefahr von schlechten Einkommensmöglichkeiten, fehlender Anbindung, lückenhafter Breitbandversorgung, mangelnder Daseinsvorsorge, insgesamt sinkender Attraktivität und in der Konsequenz Abwanderung. Laut Prognosen werden vor allem die Jungen vom Land abwandern, die Alten bleiben zurück. Wollen oder müssen so viele junge Menschen ihre Heimat verlassen, um in städtischen Regionen zu leben, zu arbeiten, Familien und Existenzen zu gründen? Und was wird aus ländlichen Regionen ohne Jugend?

In Sachen demografischer Wandel im ländlichen Raum wird über junge Menschen häufig nur mit dem Ziel diskutiert, sie gut auszubilden und als Arbeitskräfte zu halten – aber sie sind nicht nur die Zukunft der Regionen, sie haben auch Bedürfnisse im Hier und Jetzt. Angebote der Jugendarbeit sowie Teilhabemöglichkeiten vor Ort sind wichtig, auch um die Lebensbedingungen in der eigenen Region zu beeinflussen. Belange von jungen Menschen müssen stärker berücksichtigt und Jugendliche konsequenter an Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt werden.

Bedürfnisse und Interessen Jugendlicher ernst nehmen

Es gibt Landkreise, da dauert der Weg zur Berufsschule schon mal drei Stunden, Einkauf und Arztbesuch werden zum Tagesausflug. Wenn der öffentliche Nahverkehr immer mehr eingeschränkt wird, gibt es ohne Auto kaum mehr die Möglichkeit vom eigenen Dorf zur nächstgrößeren Stadt zu kommen. Im Kyffhäuserkreis (Thüringen) beispielsweise gibt es in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen jedes Jahr fast doppelt so viele Abwanderungen wie Zuzüge. Die „Potenzialanalyse im Bereich Jugendsozialarbeit im Kyffhäuserkreis“ des Landratsamts Kyffhäuserkreis (2013) formuliert als Folge des demografischen Wandels für ihre Region, dass die „Ausdünnung sozialer und kultureller Infrastruktur“ rechtsextremistische Tendenzen befördern könne. Der Landkreis versucht nun strukturell attraktiver zu werden, junge Menschen in Bildungslaufbahnen zu bringen und eine nachhaltige Angebots- bzw. Infrastruktur aufzubauen. Die Bemühungen scheinen sich auszuzahlen, denn von 2005 bis 2015 ist die Arbeitslosenquote im Kyffhäuserkreis von knapp 27% auf 12% gesunken.

Allerdings sind noch weitere Strukturmerkmale der Regionen für die Jugendlichen relevant. Die Pro-Kopf-Ausgaben für die Aufrechterhaltung von Infrastruktur sind in schrumpfenden Regionen überproportional hoch, was die kommunalen Kassen besonders belastet. Institutionell vorgesehene Mindestzahlen werden nicht mehr erreicht – Schulen werden geschlossen, Jugendclubs und Schwimmbäder lassen sich nicht mehr halten. Auch kommerzielle Angebote lohnen sich nicht mehr, Einkaufsmöglichkeiten sind erst in der nächsten Stadt zu finden. Wenn bestehende Angebote erhalten bleiben, dann werden sie vermehrt an den Bedürfnissen der Älteren ausgerichtet. Eine schlechte Versorgung, ob Nahverkehr, Breitband oder Freizeitmöglichkeiten, sowie ein reduziertes Bildungsangebot und die zum Teil unsicheren Arbeitsplatzperspektiven führen insbesondere bei qualifizierteren jungen Menschen dazu, dass diese spätestens nach Beendigung der Schule die Region verlassen und später (z. B. nach der Ausbildung) auch nicht zurückkehren.

Jung + alt = Reflexion + Innovation?

Neben allen Unsicherheiten und Risiken birgt die demografische Entwicklung auch die Chance, den Wandel gewinnbringend zu gestalten – unter anderem die Möglichkeit für neue Lebensformen im ländlichen Raum. Hierzu braucht es Kommunen, die den Entwicklungstrend akzeptieren und ihre lokale Wirtschaft neu definieren möchten. Schrumpfende Kommunen und Regionen können mit kreativen Nischen sowie spezifischen Potentialen, mit Mut, Bereitschaft und dem Hinterfragen routinierter Konzepte neue Perspektiven eröffnen und sogar dem Abwanderungstrend von jungen Menschen entgegen wirken. Insbesondere in Bezug auf politische Reformen (bspw. in der Jugend-, Familien-. Arbeitsmarkt- oder Einwanderungspolitik) ist der demografische Wandel Anlass und Antrieb für Erneuerung. Hierzu braucht es den gemeinsamen Willen der Menschen vor Ort, aller Ressorts und politischer Ebenen.

Die Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet Zukunft“ trägt die Stimme der Jugend in die Demografiestrategie der Bundesregierung

Die Bundesregierung reagiert auf die prognostizierten Entwicklungen u. a. mit ihrer Demografiestrategie. Der Fokus liegt dabei auf familien-, arbeits-, und sozialpolitischen Themen. Mit der Arbeitsgruppe „Jugend gestaltet Zukunft“ wird seit Oktober 2014 auch die Stimme der Jugend (insbesondere aus dem ländlichen Raum) in den Dialogprozess eingebracht. Die Arbeitsgruppe arbeitet mit vier Modelllandkreisen (Friesland, Kyffhäuserkreis, Vorpommern-Rügen, Lichtenfels) zusammen, die von der AG in den nächsten beiden Jahren besucht werden. Sogenannte Zukunftswerkstätten vor Ort werden mit Jugendkonferenzen und mehrtägigen Arbeitstreffen der AG kombiniert. Das erste Zusammentreffen der Arbeitsgruppe mit Jugendlichen aus der Region fand im April 2015 im Landkreis Friesland statt.

Demolition oder Revolution?

Die deutsche Bevölkerungspyramide steht Kopf. Die Gesellschaft ist faktisch dabei sich zu verändern. Aber die „Demografie“ ist nicht verantwortlich für eine düstere Zukunft. Die Konsequenzen der demografischen Entwicklung in diesem Land lassen sich von den Menschen, die hier leben, mitgestalten. Der demografische Wandel birgt viele Widersprüche; kann aber, unter Beteiligung aller, neue Chancen für die Zukunft bringen. Deshalb muss die künftige – alternde – Gesellschaft auch von der jungen Generation geformt werden. Nur dann wird sich zeigen, was die heutige Gesellschaft und die künftigen Generationen mit dem demografischen Wandel gewinnen oder verlieren können.

Autorin: Nadine Paffhausen (Koordinierungsstelle "Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft")

INTERVIEW MIT FRANZISKA LÜCK UND JÖRG FREESE

Interview Freese Lück

Creative Commons Lizenzvertrag

Kommentare

Kommentar verfassen

    Noch kein Kommentar zu diesem Beitrag vorhanden.