Mehr als ein Leitbild?! Ein Interview über den Anspruch, Jugend immer mitzudenken
21.04.2015
Kann jugendgerechtes Handeln tatsächlich verbindlich werden? Was muss dafür geschehen? Oder kann dieser Grundsatz nicht mehr sein als ein Leitbild für die ohnehin schon Überzeugten? Oder handelt es sich gar nur um eine Vision? Wir haben Immanuel Benz (stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Bundesjugendrings, l.) und Jürgen Schattmann (Leiter der Gruppe Jugend im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen, r.) dazu befragt.
- Die Jugend berücksichtigen und mitdenken – Wem bringt das was?
Immanuel Benz: Ist das nicht eine merkwürdige Frage? Es fragt ja auch selten jemand, was es bringt, Erwachsene zu berücksichtigen. Dies zeigt doch genau, dass Meinungen, Interessen und Bedürfnisse junger Menschen und ihre spezifische Lebenssituation in politischen Entscheidungsprozessen jenseits von Verwertungs- und Verzweckungslogik bisher kaum eine Rolle spielen. Aus Sicht der Jugendverbände ist die Stärkung der Interessenvertretung junger Menschen daher vor allem eine Selbstverständlichkeit. Es ist ein notwendiger Selbstzweck, wenn es gelingt, die Perspektiven junger Menschen ernsthaft zu berücksichtigen und ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, unsere gesamte Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Davon wiederum – da bin ich überzeugt – haben alle was.
Jürgen Schattmann: Die Interessenlagen und Bedürfnisse Jugendlicher zu berücksichtigen bringt der gesamten Gesellschaft Vorteile. Die Jugendlichen von heute sind die gesellschaftlichen Leistungsträger von morgen. Wenn wir – gerade in einer alternden Gesellschaft – heute auf sie zugehen und sie mitgestalten lassen und mit in die Verantwortung nehmen, dann trägt das dazu bei, dass sich die heutigen jungen Menschen auch später in der Verantwortung fühlen werden.
- Viele Erwartungen hängen ja an der Entwicklung eines Jugend-Checks. Wie stehen Sie dazu, mit welchen Herausforderungen rechnen Sie?
Benz: Die Umsetzung einer Eigenständigen Jugendpolitik muss mehr sein als ein Jugend-Check. Dieser ist jedoch ein Prüfstein für die Ernsthaftigkeit der gesamten Strategie der Bundesregierung. Gelingt es, mit dem Jugend-Check ein transparentes und wirksames Instrument zu schaffen, mit dem politisches Handeln auf die Auswirkungen auf junge Menschen überprüft werden kann oder wird er zum Papiertiger? Zudem soll er nicht nur im abgeschlossenen Bereich der Kinder- und Jugendhilfe bzw. des BMFSFJ angewendet werden, sondern im gesamten staatlichen Handeln. Daher ist eine der zentralen Herausforderungen, ihn ressortübergreifend und verbindlich zu installieren.
Schattmann: Unter dem Begriff „Jugend-Check“ werden aktuell sehr unterschiedliche Modelle diskutiert. Das beginnt bei einer durch die Verwaltung durchzuführenden Gesetzesfolgenabschätzung und endet bei einem dynamischen System, in dem Jugendliche selbst zu Vorhaben votieren und so die Relevanz aus ihrer Sicht bewerten. Ein Jugend-Check ist dann sinnvoll, wenn er junge Menschen dazu anregt, sich mit gesellschaftlichen Fragen zu beschäftigen und Lösungen zu entwickeln. Er muss dann aber auch eine Pflicht zum Beispiel für Politik definieren, sich mit den Ergebnissen angemessen zu befassen.
- Eigenständige Jugendpolitik steht nicht nur für ein starkes Jugend-Ressort, sondern erhebt auch den Anspruch, in andere politische und gesellschaftliche Bereiche hineinzuwirken. Wie kann es gelingen, diesen Querschnittsanspruch umzusetzen?
Benz: Was es braucht ist ein jugendpolitischer Paradigmenwechsel. Jugend darf nicht mehr nur Nischen- oder Problemthema sein, sondern muss als relevantes Politikfeld mit großem Gestaltungspotential anerkannt werden, in dem junge Menschen als Subjekte ihres Handelns wahrgenommen werden. Nur wenn es in einem ersten Schritt gelingt, dass nicht nur das „starke Jugendressort“, sondern die gesamte Bundesregierung bei ihren Vorhaben die Interessen junger Menschen verbindlich mitdenkt – bzw. dank des Jugend-Checks mitzudenken hat – kann eine gute Jugendpolitik auch gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten. Etwa durch eine Verbesserung von Ausbildungs- und Zukunftsperspektiven, die Demokratisierung von Schule oder die Schaffung selbstbestimmter Freiräume.
Schattmann: Der Querschnittsanspruch meint ja nichts anderes als eine Jugendsicht auf jeden Entscheidungsbereich der Gesellschaft zu werfen. Evident ist dies zum Beispiel beim Bereich Schule. Entscheidungen hier berühren junge Menschen unmittelbar. Gleiches gilt vor Ort in der Gestaltung des Lebensumfeldes. Aber auch Entscheidungen zu Fragen wie der Rentenversicherung berühren junge Menschen – zumindest in dem sie zu Be- oder Entlastungen für sie führen. Auf all diese Fragestellungen einzugehen, dürfte kaum machbar sein. Deshalb ist es meines Erachtens wichtig, dass Jugendliche selbst Gelegenheit bekommen, sich hierzu eine Meinung zu bilden. Politik und Gesellschaft müssen Möglichkeiten für diese Meinungsbildung und Beteiligung schaffen.
- Der Jugend gerecht zu werden ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Welche Akteure sind Ihrer Meinung nach bislang noch nicht ausreichend daran beteiligt?
Benz: Die Liste ist sicher lang, wobei die Frage präziser lauten müsste, welche Akteure sich noch nicht ausreichend beteiligen. Ob Arbeitgeber, Schule oder Medien: Ziel muss es sein, das jeweilige Handeln auf das zu Grunde liegende Bild von Jugend und die Auswirkungen auf Jugend zu reflektieren. Je größer die möglichen Auswirkungen, desto genauer ist zu prüfen. An erster Stelle steht daher wieder das Handeln von Legislative und Exekutive. Hier fallen viele Entscheidungen – oft auch im Namen der Jugend – die ihr keineswegs gerecht werden. Beispielhaft sei auf die Haushaltspolitik verwiesen. Im angeblichen Interesse zukünftiger Generationen den hier und heute lebenden jungen Menschen Unterstützung und Chancen zu verwehren, ist nicht jugendgerecht.
Schattmann: Erkennbar wendet sich bislang die Jugendarbeit dieser Aufgabe zu. Andere Bereiche, wie Umweltpolitik und Schule lassen – zumindest in Nordrhein-Westfalen –erste Ansätze erkennen. Aber hier bestehen noch Defizite. Denn jugendgerecht zu werden bedeutet ja in allererster Linie, Jugendliche zunächst einmal zu beteiligen. Gerade bei der Ausgestaltung des Nahraums, also bei der Bebauung, dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und bei der Schaffung von Angeboten für die Freizeitgestaltung fehlen in der Regel entsprechende Initiativen zur Beteiligung junger Menschen.
- Herr Schattmann, in Nordrhein-Westfalen läuft unter dem Stichwort „einmischende Jugendpolitik“ unter anderem die jugendpolitische Initiative „umdenken – jungdenken!“. Worum geht es dabei und mit welchen weiteren Maßnahmen sollen die Belange junger Menschen in NRW berücksichtigt werden?
Schattmann: Die Initiative „umdenken-jungdenken!“ ist der jugendpolitische Vorstoß der Jugendverbände in Nordrhein-Westfalen. Im Kern geht es darum, Gelegenheiten der Beteiligung von Jugendlichen zu schaffen, sowohl in der Landes- als auch in der Kommunalpolitik. Daraus ist auf der Landesebene ein steter Dialog mit Jugendlichen zu Forderungen quer durch die Ressorts entstanden, den wir mit ganz unterschiedlichen Formaten durchführen. Diesen Dialog wollen wir zukünftig noch verbindlicher gestalten. Es geht uns darum, dass wir aus den Lebenswelten von Jugendlichen auch tatsächlich Handlungsbedarfe für die Landespolitik ziehen.
- Herr Benz, der Deutsche Bundesjugendring plädiert für eine „gute Jugendpolitik“. Was ist damit genau gemeint? Wie können die Jugendverbände und Jugendringe dazu beitragen, dass Politik und Gesellschaft die Interessen von Jugendlichen zum selbstverständlichen Bestandteil ihres Handelns machen?
Benz: Gute Jugendpolitik nimmt junge Menschen als ihren Ausgangspunkt, ihre Interessen als ihr Ziel. Denn auch wenn es die eine Jugend nicht gibt, sondern junge Menschen unheimlich vielfältig sind: Jugend existiert als eigenständige Lebensphase und als gesellschaftliche Wirklichkeit. Gute Jugendpolitik ist daher zuständig für alles, was junge Menschen betrifft oder interessiert, vertritt den Standpunkt der Jugend und ist in diesem Sinn parteilich. Als Formen der demokratisch legitimierten Selbstorganisation von und für junge Menschen übernehmen wir als Jugendverbände und -ringe genau in diesem Sinne selbstbewusst Verantwortung und sind ein streitbares Gegenüber für Vertreter_innen verschiedener Politikfelder oder Interessengruppen.
- Angenommen, Sie sind Bürgermeister in einer kleinen, ländlichen Kommune, und Sie haben keine Ahnung, was Ihre Jugend eigentlich denkt und will – welche drei Schritte unternehmen Sie?
Benz: Dass jemand derart ahnungslos Bürgermeister werden könnte, zeigt die dringende Notwendigkeit, junge Menschen strukturell und nicht nur ad hoc stärker zu beteiligen. In dieser Situation gilt es daher zunächst die vorhandenen Strukturen zu stärken, der Jugendhilfeausschuss ist dafür von zentraler Bedeutung. Um den Dialog mit jungen Menschen zu führen, würde ich als erstes mit Jugendlichen in Schülermitbestimmungsgremien, Jugendverbänden, Jugendtreffs und dem Jugendring sprechen und gemeinsam mit ihnen weitere Dialog- und Beteiligungsmöglichkeiten entwickeln. Um ihre Lebenssituation besser verstehen zu können, würde ich zudem mit Lehrer_innen, Jugendarbeiter_innen und Ausbilder_innen in den Betrieben sprechen.
Schattmann: Ich gebe einer interessierten Gruppe von Jugendlichen Geld, damit diese eine Party veranstalten können – verbunden mit der Auflage, dass ich danach fünf Forderungen für eine jugendgerechtere Gestaltung unseres Ortes präsentiert bekomme. Diese fünf Forderungen gebe ich in die Verwaltung meiner Kommune, die dazu jeweils eine Vorlage für den zuständigen Ausschuss fertigt. Zu den Sitzungen laden wir die Jugendlichen ein und diskutieren mit Ihnen gemeinsam darüber. Nach einem Jahr werten wir mit den Jugendlichen aus, wie die Beteiligung funktioniert hat.
Vielen Dank für das Interview!
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